Dr. Werner Nohl · Landschaftsarchitekt · Honorarprofessor (TU München)
Schon wieder (2019): Eine zweigleisige Straßenbahn durch den Englischen Garten in München?
Werner Nohl
Vor knapp 20 Jahren wollten die Stadtwerke München - nicht zum ersten Mal in den letzten 100 Jahren - eine zwei-gleisige Straßenbahn quer durch den einzigartigen, 200 Jahre alten Englischen Garten in München führen. Die Genehmigungsbehörde hatte damals dieses Ansinnen abgelehnt, weil dadurch der Englische Garten als bedeutsamer Erholungsraum wie vor allem auch als weltberühmte und denkmalgeschützte Parkanlage zerstört worden wäre (vgl. auch mein Gutachten von 2000 auf dieser Homepage). Die Stadtwerke interpretierten die Ausführungen der Genehmigungsbehörde verengend dahin gehend, dass insbesondere die notwendige „Verdrahtung“ (Oberleitung) und die Vielzahl der Masten den außerordentlichen Denkmalwert des Gartens zerstören, und die notwendigen Baumfällungen irreversible Umweltschäden nach sich ziehen würden.
Nachdem nun zwischenzeitlich ein Straßenbahntyp entwickelt wurde, der auf begrenzten Strecken batteriebetrieben operieren kann, versuchen die Stadtwerke heute erneut, ihr altes Ziel einer Straßenbahn durch den Englischen Garten zu verwirklichen. Dabei interessiert sie offensichtlich weder der einmalige kulturelle Wert des Englischen Gartens und seine touristische Bedeutung für die Stadt München noch die Tatsache, dass es eine Reihe realistischer Alternativen für eine Straßenbahnlinie im Sinne einer „Nordtangenten“ gibt, die Tram durch den Englischen Garten also auch aus verkehrlicher Sicht gar nicht notwendig ist.
Um das Vorhaben der Stadtwerke besser einschätzen zu können, sind im Folgenden eine Reihe von Fakten, Kritikpunkten und Lösungsansätzen zusammengestellt.
A. DER SOZIOKULTURELLE WERT DES ENGLISCHEN GARTENS
ERHOLUNGSASPEKTE
· Der Englische Garten ist das Herzstück des Münchener Grünflächensystems (Er wird von 60.000 bis 90.000 Besuchern an sonnigen Sommertagen aufgesucht. 50 % aller Besucher des Engl. Gartens leben in der unmittelbaren Umgebung des Parks (in Schwabing, Max-Vorstadt, Lehel, Altstadt)
· Kernproblem einer Straßenbahn im Englischen Garten im Hinblick auf Freizeit und Erholung: Das Leben in den heutigen großen Städten zeichnet sich dadurch aus, dass überall im Straßenraum höchste Wachsamkeit und ungeteilte Aufmerksamkeit notwendig ist, wenn man gefahrlos und unbeschadet existieren will. Der Aufenthalt in den Städten verlangt heute von den Bewohnern in vielen Bereichen hochgradige Vigilanz. In Parkanlagen können die Bewohner dagegen davon ausgehen, dass sie folgenlos abschalten und „sich gehen lassen“ können, dass sie dösen, tagträumen, sich völlig entspannen und ihren Gedanken nachhängen können. Bei einer solchen parktypischen Erwartungshaltung, in der nicht mehr die Menschen die Dinge aktiv im Griff haben müssen, sondern zulassen können, von den Dingen in „andere Welten“ gelockt und entführt zu werden, wirkt die Errichtung einer Straßenbahn im Englischen Garten geradezu zerstörerisch mit möglicherweise tödlichen Folgen. Das ist vor allem mit Blick auf Kinder und alte Menschen zu bedenken.
Daher hinkt auch der Vergleich der geplanten Tram durch den Englischen Garten mit der Straßenbahn auf der Perusa-Straße (Fußgängerstraße in der Altstadt). Denn die Menschen auf der Perusastraße wissen, dass sie sich mitten im Altstadtgetümmel befinden und sind entsprechend alert und wachsam. Im Englischen Garten aber gehen die Menschen davon aus, dass sie sich im Schonraum einer naturnahen Parkanlage befinden und sind daher entsprechend tiefenentspannt (hypovigilant), also in einem völlig relaxten und gegenüber Umweltgefahren völlig arglosen Zustand. Und genau dieser hypovigilante Zustand ist die Voraussetzung für eine effektive Erholung.
DENKMALSCHUTZASPEKTE
· Der Englische Garten ist nach dem Bayerischen Denkmalschutzgesetz wegen seiner geschichtlichen, künstlerischen und wissenschaftlichen Bedeutung als Baudenkmal geschützt und in die Denkmalschutzliste eingetragen.
· Nach dem Bayerischen Naturschutzgesetz ist er als Landschaftsschutzgebiet festgesetzt, wobei nach § 3 der Landschaftsschutzverordnung ausdrücklich verboten ist, „den Naturgenuss zu beeinträchtigen oder das Landschaftsbild zu verunstalten“.
· Es war die geniale Idee des Erbauers des Englischen Gartens, Fr. L. von Sckell, den Garten mit einem ausgeklügelten System begehbarer Landschafts- oder Stimmungsbilder auszustatten, also mit großen und kleinen Räumen, die die Menschen, nicht nur von den Wegen aus, sich in abwechslungsreichen Erlebnissen erwandern können.
· Darüber hinaus entwarf Sckell für diesen Garten das Programm eines Volksgartens, das richtungsweisend für die ganze demokratische Volksparkbewegung in den deutschen und europäischen Großstädten der folgenden Jahrhunderte wurde. Es ist eine einzigartige, demokratische Vision der Parknutzung, die dieser begnadete Mann schon vor 200 Jahren im Englischen Garten verwirklichte.
· Mit dem Bau der Straßenbahn durch den südlichen Bereich des Englischen Gartens, den Sckell als das Herzstück des Gesamtparks betrachtete, würde dieser Kernbereich in zwei separate Teile zertrümmert, würde der Garten als historisches Realdokument der „begehbaren Stimmungsbilder“ ein für alle Mal zerstört werden.
· Kein Museumsleiter käme aus einer praktischen Notlage heraus auf die Idee, ein wertvolles Gemälde in zwei Teile zu zerlegen, um es dann dem Publikum mit Klebestreifen quer über die Leinwand zu präsentieren. - In ihrem reduktionistischen Kulturverständnis glauben aber die Verkehrsstrategen der Stadtwerke München beim Englischen Garten, der zu den kühnsten Parkschöpfungen dieser Welt gehört, sich einen solchen Frevel leisten zu können.
TOURISMUSASPEKTE
· Der Englische Garten in München besitzt einen hohen Bekanntheitsgrad. Er zählt neben dem Central Park in New York und dem Hyde Park in London zu den weltweit bekanntesten innerstädtischen Gartenanlagen im landschaftlichen Stil.
· Damit ist er eine einzigartige touristische Destination und ein Alleinstellungsmerkmal der Stadt München, die sich durch ihn gegen viele touristische Wettbewerber wirtschaftlich abhebt.
· Eine Straßenbahn durch den Englischen Garten bliebe nicht ohne Folgen für einen möglichen Eintrag in die Weltkulturerbeliste. Die Diskussion um die Waldschlösschenbrücke im Elbtal bei Dresden hat gezeigt, dass bei derartig harten Eingriffen, wozu auch die Straßenbahn zählen würde, ein Eintrag in diese Liste in Zukunft nicht mehr möglich sein wird.
VERKEHRSASPEKTE
· Bedeutung der Busstraße für die Parkbenutzer: Die heutige Bus-Trasse ist ein zentraler Fuß- und Radweg im Englischen Garten. Auf ihr bewegen sich viele Fußgänger und Radfahrer, schon weil über sie der Biergarten (mit 7.000 Sitzplätzen!) am Chinesischen Turm erreichbar ist.
· Busstraße und ihre Querwege: Die Busstraße wird von 7 Fuß- und Radwegen gekreuzt, weiter 11 münden auf sie ein. Diese vielen fußläufigen Verbindungen sind inkompatibel mit einer Straßenbahn.
· Beim Bau der Tram mit den tonnenschweren Akkus wäre also eine deutliche Verbreiterung der Straße notwendig, denn auf der Straße müssen sich Fußgänger, Radfahrer, Rettungsdienste, Taxis, Busse und Straßenbahnen bewegen können.
· Ebenso ist eine durchgehende Fahrbahnbefestigung notwendig. Es wird eine breite Betontrasse mit befahrbarer Oberfläche errichtet werden müssen. (Eine Straßenbahn im Rasenbett, wie sie die suggestive Fotosimulation etwa in der Süddeutschen Zeitung vom 5./6. August 2017 zeigt, ist nicht möglich!)
· Das alles macht erhebliche Eingriffe in die Vegetation notwendig (Baumfällungen)
· Länge von Straßenbahnen und Bussen: Busse sind 12 m, mit Hänger 18 m lang; die Straßenbahnen sind 27 m lang, die dreigliedrigen 36 m lang. Schon wegen dieser größeren Länge sind die Straßenbahnen die gefährlicheren Objekte für Fußgänger und Radfahrer. Übrigens: trotz dieser deutlichen Längenunterschiede besitzen Straßenbahnen gegenüber Bussen nur eine 1,6-fache Fahrgastkapazität.
· Bremsweg von Tram und Straßenbahn: Der Bremsweg einer Straßenbahn, die mit 30 km/h durch den Englischen Garten fährt, ist etwa so lang wie der eines Busses, der sich mit 50 km/h bewegt.
· Empirische Untersuchung zu Unfallhäufigkeiten von Straßenbahnen und Bussen: In der BRD war im Durchschnitt der Jahre 2005 bis 2009 eine Straßenbahn nach rund 225 000 Kilometern, ein Kraftomnibus nach rund 616 000 Kilometern in einen Unfall mit Personenschaden verwickelt, d.h. Straßenbahnen sind fast 3 mal so oft in Unfälle involviert.( Quelle: Statistisches Bundesamt, „Verkehrsmittel im Risikovergleich“).
· Zahl der Straßenbahnen: Würde die Straßenbahnlinie durch den Englischen Garten realisiert, dann müssten Parkbesucher, also im wesentlichen Fußgänger und Radfahrer, in den Hauptverkehrszeiten damit rechnen, im Durchschnitt alle 2,5 Minuten auf der Fahrstraße einer Straßenbahn zu begegnen. Dazu kommen drei Buslinien, wozu auch die neuen Metrobusse der Linie 68 bzw. 58 zählen. – Schon heute: Ein erhebliches Gefahrenpotential.
B. ELEKTROBUS STATT STRASSENBAHN
Verfolgt man die gesamte ökologische Belastungskette, dann stellt der Elektrobus im Vergleich mit der Straßenbahn die deutlich geringere Umweltbelastung dar.
·
Die Elektrobusse
sind kürzer, beweglicher, ökologisch verträglicher und
bremstüchtiger als
Straßenbahnen, und wären daher die derzeit
sinnvollste Lösung.
-
Ökologisch bedenklich ist
aber auch, dass viele Straßenbahnzüge mit tonneschweren Akus
ständig quer durch die Stadt fahren müssten, obwohl diese
aku-bewehrten Züge nur
zur Überwindung des Englischen Gartens an seiner Schgmalseite
gedacht
sind.
· Schon die bestehenden Buslinien durch den Englischen Garten können aus den oben dargelegten Gründen nur als ein Provisorium gelten. Um auch in diesem Übergangszustand die Belastungen für die Parkbesucher so gering wie möglich zu halten, und auch die Vorteile des Englischen Garten für zukünftige Stadtbewohner zu bewahren, sind Straßenbahnen aus den genannten Gründen ungeeignet. Stattdessen sollten die derzeitigen Dieselbusse möglichst rasch gegen klimafreundlichere Elektrobusse ausgetauscht werden.
C. SCHWACHSTELLEN IN DER PLANUNGSLOGIK
· Es ist geradezu absurd, den Südteil und den Nordteil des Englischen Gartens durch Untertunnelung des Mittleren Rings – wie geplant – wieder zu vereinen (Gottseidank!), aber gleichzeitig den Südteil – das historische und rekreative Herzstück des Englischen Gartens – durch den geplanten doppel-spurigen Bau der Straßenbahn in zwei separate Teile zu zerlegen und zu zerschlagen. - Was für eine krude Planungslogik!!!
·
Macht des Faktischen: Wenn nach dem Bau der Straßenbahn die
ersten
Unfälle passieren, wird niemand mehr – schon wegen der hohen
Baukosten – die
Straßenbahn abbauen wollen, dann werden - davon kann man mit
Sicherheit
ausgehen -
schon aus versicherungstechnischen
Gründen Zäune rechts und
links der Trasse
mit nur wenigen Durchlässen errichtet werden. Das ist die Macht
des
Faktischen! Dann ist es vorbei mit den frei "begehbaren
Landschaftsbildern",
wie sie Sckell so genial ersonnen und im Englischen Garten
verwirklich
hat. - Wie rigoros durch solche Umlaufsperren der Zugang zum Garten
verriegelt wird, kann an der Oettingenstraße schon heute in
Augenschein genommen werden.
· Irriges (Straßenbahn-)Netzdenken: Bei genauem Hinsehen zeigt sich also, dass den Stadtwerken die Sachargumente für die Notwendigkeit einer Straßenbahn durch den Englischen Garten als Beitrag zu einem effizienten, stadt- und regionswirksamen Verkehrsnetz fehlen. Statt eine Sachdiskussion über Sinn und Zweck einer Tram durch den Englischen Garten zu führen, überschüttet man die Anlieger und Stadtbewohner mit einem Wust an Detaildaten, immer suggerierend, dass die grundsätzliche Entscheidung für den Bau der Straßenbahn schon gefallen sei. So tritt an die Stelle rationaler Entscheidungen magisches Denken, und das nennt man in den psychologischen Wissenschaften Fetischismus. Wir brauchen aber im Englischen Garten keinen Netzfetischismus sondern eine behutsame, umweltfreundliche Verkehrslösung, die möglichst wenig in das einzigartige Denkmal und den unbezahlbaren Erholungsraum der Menschen eingreift.
FAZIT: ALTERNATIVEN FÜR EINE NORDTANGENTE
Wenn denn eine Straßenbahn im Sinne einer Nordtangenten (ein fragwürdiges Konzept etwa im Hinblick auf die städtebauliche Erschließung des Münchener Nordostens) überhaupt notwendig werden sollte, dann bieten sich zum Schutz des Englischen Gartens mehrere Alternativen an:
· (a) Die Straßenbahn unterquert den Englischen Garten im Tunnel des Mittleren Ringes, mit dessen Realisierung in wenigen Jahren zu rechnen ist;
· (b) Die Straßenbahn wird über den Frankfurter Ring geführt und weiter in Richtung St. Emmeran, wie kürzlich von Dorothea Wiepcke, Stadträtin, vorgeschlagen;
· (c) Es wird eine Untertunnelung des Englischen Gartens im Bereich der heutigen Bus-Trasse für Straßenbahn und Busse angestrebt (Vorschlag der Architekten Grub & Lejeune).
Alle drei Alternativen beinhalten - und das ist ihr großer Vorteil -, dass auch die jetzigen Buslinien durch den Englischen Garten aufgehoben werden können. Bis zu diesem Zeitpunkt, an dem durch Verwirklichung einer der Alternativen der gesamte Englische Garten an die Fußgänger und Radfahrer zurückgegeben werden kann, sind die derzeitigen Dieselbusse umgehend durch Elektrobusse als „kleineres Übel“ zu ersetzen.
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Übrigens:
Der Central Park in New York
- mit 3,41 km² nur geringfügig kleiner als der gesamte Englische
Garten (Südteil und Nordteil) in München (3,75 km²) -, ist seit
2018 aus Umwelt- und
Gesundheitsgründen komplett
autofrei, und damit allein den Fußgängern,
Radfahrern und anderen eigenmobilen Parkbesuchern vorbehalten.
(Straßenbahnen gibt es in New York nicht.)